Das Licht der kleinen Kerze
Endlich wieder ein gemeinsamer Abend, auf den beide Ehepartner sich sehr gefreut hatten. In letzter Zeit waren diese Abende rar geworden. Beide waren zu sehr in ihren beruflichen Alltag integriert. Überstunden und Versammlungen nach Feierabend erschwerte das Familienleben und legten sich bedrückend auf beide. Jette hatte sich ganz speziell für diesen Abend ein neues Kleid gekauft, um sich für ihren Mann schönzumachen. Jetzt saß sie bei Kerzenschein und einer geöffneten Flasche Wein, im Herd schmorte das Lieblingsessen ihres Mannes. Wer jedoch nicht kam, war er. Eine kurze SMS kündigte ihr viel zu spät an, dass er wieder einmal aufgehalten wurde. Je länger Jette warten musste, umso mehr steigerte sich ihr Unmut. Als Bernd endlich erschöpft vom Tage heimkam, hatte sich ihr Frust so gesteigert, dass es anstatt eines gemütlichen Abends, ein Abend mit Zank und Streit wurde. Längst waren die Kerzen heruntergebrannt. Nur noch spärlich glimmte ein letzter Stummel, der letzten Kerze. Wütend verließen beide das Zimmer, ohne an diesen Kerzenstummel zu denken, der sicher in Kürze selbst verlöschen würde. Jeder ging seiner Wege, die Trennung war unvermeidlich.
Die kleine Kerze war betrübt, war sie doch dazu da, Freude in die Herzen zu bringen, wie sich die kleine Kerze immer wieder sagte. So machte sie sich mit letzter Kraft auf den Weg, um Menschen zu suchen, die sie mit ihrem Licht erfreuen konnte. Sie ging durch die Straßen der Stadt und sah hier und dort ins Fenster, um zu schauen, wo sie willkommen wäre, um mit ihrem letzten Schein Freude zu verschenken. Als sie gerade wieder in ein Fenster schaute, sah sie einen alten Mann, der sich gerade von seinem Sessel erhob, um schlafen zu gehen. Plötzlich gewahrte er das Licht an seinem Fenster. Das musste er sich ansehen, darum ging auf das Fenster zu. Er konnte es kaum fassen, was machte diese kleine Kerze hier? Schon lange hatte er sich keine Kerze mehr angezündet. ‚Ach ja‘, dachte er, ‚das war damals schön, als Gerda noch bei mir war, als wir gemeinsam, Hand in Hand vor dem Fernseher saßen.‘ In Gedanken hatte er das Fenster geöffnet. „Komm herein, kleines Licht! Der Wind könnte dich auslöschen.“ Gerne folgte das kleine Licht dieser freundlichen Einladung. Der alte Mann stellte es auf einen Kerzenständer und betrachtete es, in Gedanken an seine geliebte Frau versunken. Nach einem Weilchen, blies er die Kerze aus und wünschte ihr eine gute Nacht. Glücklich und frisch gestärkt, schlief auch die kleine Kerze ein. Jeden Abend zündete der alte Mann von nun an die kleine Kerze an und er wunderte sich, dass sie immer kräftiger strahlte, anstatt zu verlöschen. Eines Abends sprach er zu der Kerze: „Morgen muss ich ins Heim, ich habe nicht mehr die Kraft, mich um meine Wohnung zu kümmern. Dich, kleine Kerze, lasse ich wieder frei, erfreue andere Menschen, so wie du mich erfreut hast, denn mitnehmen darf ich dich nicht.“ Bei diesen Worten öffnete er das Fenster und stellte die Kerze auf den Platz, wo er sie damals gefunden hatte.
Etwas traurig machte sich die kleine Kerze erneut auf die Wanderschaft. Wieder schaute sie in die unterschiedlichsten Stuben hinein. „Was war das, kannte sie diesen Menschen nicht?“, überlegte das kleine Licht und leuchte ins Fenster dieser kleinen Wohnung. Versonnen saß Bernd vor dem Fernseher, immer wieder musste er an Jette denken und wie leichtsinnig sie ihr Glück aufgegeben hatten. Plötzlich gewahrte er die Kerze. ‚War es nicht eben solch eine kleine Kerze, die damals auf ihrem Wohnzimmertisch stand, als sie sich trennten? Bernd ging und öffnete das Fenster, um die kleine Kerze ins Zimmer zu holen, dann zog er sich Mantel und Schuhe an, nahm die kleine Kerze und machte sich mit ihr auf den Weg. Auf einen Weg, der lange schon fällig war. Zuerst sah er beobachtend ins Fenster, dabei stellte er fest, dass Jette ebenso unglücklich war wie er. So stellte er das kleine Licht aufs Fensterbrett und beobachtete, was jetzt geschehen würde. Nicht lange und Jette öffnete das Fenster, ließ die kleine Kerze ein und schaute sich nach allen Seiten um, dabei entdeckte sie Bernd. Voller Jubel öffnete sie die Tür und beide lagen sich in den Armen. Jubelnd brannte die kleine Kerze so hell auf, dass sie erlosch. Jetzt hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Freude und Liebe waren wieder in die Herzen eingezogen. Jette und Bernd hoben diesen Kerzenstummel auf für alle Zeiten. (Christina Telker)